Wer Leistung fordert, muss Sinn bieten

Bei einer Besprechung sagte unlängst mein Gesprächspartner im Brustton der Überzeugung: „Wer Leistung fordert, muss Sinn bieten!“. Obwohl ich der Aussage schon öfters begegnet bin, hatte ich nie richtig über sie nachgedacht. Die Adventszeit, die Zeit der Be-sinn-ung, bietet sich dazu nachgerade an.

Es gehört zum menschlichen Dasein, dass wir nicht einfach nur leben wollen, dass wir nach einem Leben verlangen, das sinnvoll ist. Wo aber können wir Sinn finden?

Der Blick auf andere mag da helfen. Warum bejahen sie das Leben?

In meinem geliebten Beruf habe ich das Privileg, mit vielen Menschen Dialoge über grundsätzliche Themen führen zu können. Dabei begegnen wir manchmal der Frage, die so alt ist wie die Menschheit selbst: Was ist der Sinn des Lebens? Eine Arbeit haben, gut leben können, die Familie, gesund bleiben, Ferien, Reisen, Freunde, nichts Konkretes, das sind die häufigsten Antworten auf diese zentrale Frage. Was ist der Sinn Ihres Lebens?

Für mich steht fest, dass die Frage immer aktueller, immer dringlicher wird, denn bei vielen Menschen spüre ich nicht erst seit gestern eine existenzielle Frustration, ein Vakuum, ein Gefühl der Sinnlosigkeit. Was mögen die Gründe sein?

Ich wage den Versuch einer Erklärung. Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte und Triebe, was er muss. Und im Gegensatz zum Menschen der früheren Zeiten sagen ihm keine Traditionen mehr, was er soll. Was will der Mensch eigentlich?

Es bieten sich zwei Wege an: Erstens, er will nur das, was andere tun. Damit sind wir beim Konformismus (Stichwort Globalisierung) der heutigen Zeit angelangt, oder er tut zweitens nur das, was die anderen von ihm wollen. Damit kommen wir in die Nähe des Totalitarismus: Wer Leistung fordert, muss Sinn geben! Wessen und welcher Sinn?

Ich teile die Auffassung, dass der Mensch die Herausforderung, die Anforderung einer Aufgabe, deren Erfüllung auf ihn wartet und der er auch gewachsen ist, braucht. Stress is the salt of life (Hans Selye). Der Mensch braucht eine gewisse gesunde Spannung. Er ist heutzutage von einem Sinn her zuwenig gefordert.

Statt in der Arbeit, bei der er die weitaus meiste Zeit seines Lebens verbringt, sucht er Sinn in der Freizeit, im Sport. Dort verlangt er etwas von sich. Er verlangt sich selbst eine Leistung ab, eine Leistung des Verzichts. Dabei ist er auch mit der Entartung (Rekordsucht) und des Missbrauchs (Doping) des Sports konfrontiert.

Wer ein warum zu leben hat, erträgt fast jedes wie, schrieb Friedrich Nietzsche. Die Antwort nach dem Sinn könnte hier liegen. Es wurde empirisch nachgewiesen, dass Menschen, die sich in Extremsituationen befanden, dann deutlich bessere Überlebenschancen hatten, wenn sie sich an einer Aufgabe, einer Tat oder einem Werk in der Zukunft orientierten. An etwas oder jemanden, das oder der auf sie wartete! Menschen, deren zeitliche Orientierung mehrheitlich in der Zukunft liegt, leiden nachweislich weniger unter dem Sinnlosigkeitsgefühl.

Der wohl grösste Irrtum besteht darin, dass Menschen meinen, man könne Sinn vermitteln oder man bekäme Sinn von aussen verabreicht, gleich einer Medizin. Sinn kann man nicht geben, Sinn muss jeder selbst finden. So gesehen ist „Wer Leistung fordert, muss Sinn geben“ vor allem eines – opportunistisch.

Auf jeden Menschen wartet ein anderer Sinn. Nichts und niemand kann ihm die Sinnfindung abnehmen.