Wann sind Sie das letzte Mal gescheitert?

„Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“

Das Zitat des irischen Schriftstellers und Literatur-Nobelpreisträger Samuel Beckett hat sich der Schweizer Tennisspieler Stanislas Wawrinka, der im Januar 2014 in Melbourne seinen ersten Grand-Slam-Titel erkämpfte, als Lebensphilosophie auf den Unterarm tätowieren lassen. Stan kämpfte so lange und so unermüdlich, bis Siege das Scheitern ablösten.

Wann sind Sie zum letzten Mal gescheitert? Woran? War es wirklich ein Scheitern oder bloss ein gewöhnlicher Misserfolg? Und worin besteht der Unterschied?

Arbeiten Sie mit Aufgabenlisten? Wie oft kommt es bei Ihnen vor, dass Sie alle Aufgaben bis am Abend erledigt haben? Sie schaffen das immer? Jeden zweiten Tag? Oder vielleicht einmal pro Woche? Wenn es Ihnen geht wie den meisten Menschen, so erledigen Sie gerade mal jeden 20. Tag eine komplette Aufgabenliste. Wir nehmen uns viel vor. Manchmal unrealistisch viel. Das wäre verzeihlich, wenn wir diese Planungsaufgabe erst seit kurzem ausführen würden. Doch Sie und ich machen ja diese Aufgabenlisten schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Also dürfte man annehmen, dass wir unsere Fähigkeiten, Dinge zu erledigen, nicht jeden Tag von neuem überschätzen. Das ist keine triviale Feststellung, denn auf anderen Gebieten lernen wir ja auch aus unseren Erfahrungen. Warum denn nicht beim Planen? Obwohl wir wissen, dass die meisten unserer früheren Prognosen zu optimistisch waren, glauben wir daran, dass sie dieses Mal realistisch sind. Die Lüge, mit der wir uns dann zu trösten versuchen, lautet: „Ich kann nicht planen.“ Wir sollten uns von uns nicht alles gefallen lassen.

Scheitern assoziieren wir oft mit jenem tragischen Moment, in dem für alle Beteiligten klar wird, dass jemand sein Ziel verfehlt hat. Dies kann eine Kündigung, die Scheidung des Ehepartners oder ein Sturz kurz vor der Ziellinie eines Skirennens sein. Ob ein Ergebnis als Erfolg oder Misserfolg gewertet wird, ist nicht nur abhängig von scheinbar „harten Fakten“, sondern wird zu einem nicht unerheblichen Teil durch psychologisch wirksame Faktoren bestimmt. Jedes Urteil ist relativ!

Ein Bergsteiger, der den Gipfel auch beim zweiten Versuch nicht erklommen hat, dabei aber diesem deutlich näherkam als bei ersten Mal, wird sein Scheitern anders beurteilen als ein Aussenstehender. Wir sollten uns deshalb der Begrenztheit unseres Urteils bewusst zu sein. Dies gilt besonders dann, wenn es darum geht, die Ursachen des Scheiterns zu analysieren. Vielleicht herrschten beim zweiten Gipfelangriff deutlich schlechtere Wetterverhältnisse? Die Anerkennung dieser Urteilsrelativität kann hilfreich sein, um die Angst vor einem möglichen Scheitern zu reduzieren oder um zu verhindern, dass Scheitern zu Hoffnungslosigkeit oder gar zur Kapitulation führt.

Es gibt mehr Leute, die aufgeben, als solche die scheitern! Es steht ausser Zweifel, dass wir uns das Scheitern selbst erheblich erschweren können. Dies trifft insbesondere auf Situationen zu, in denen bei der Verfolgung eines Ziels unübersehbare Misserfolge auftreten. Hier besteht die Gefahr, dass ein hoher Rechtfertigungsdruck uns daran hindert, rechtzeitig von einem aussichtslosen Ziel abzulassen. Durchzu-halten, wenn es schwierig wird, muss also nicht unbedingt ein positives Zeichen von Willensstärke sein, sondern kann auch auf eine fehlende, persönliche Flexibilität hindeuten.

Kommt hinzu, dass Ziele selten genug eindeutig definiert werden. Ich spreche in diesem Kontext gerne von einem hochauflösenden Bild des Ziels. Dies gilt insbesondere für jene mit einer langfristigen Perspektive, wie zum Beispiel „beruflich erfolgreich“ zu sein. Ein solches Ziel kann mit ganz unterschiedlichen Anspruchsniveaus verknüpft sein. Für eine Person kann dies mit der Vorstellung verbunden sein, als Vorstandsvorsitzender eines multinationalen Konzerns tätig zu sein, während eine andere Person beruflichen Erfolg mit der Rolle eines Verkaufsleiters gleichsetzt.

Ziele werden in aller Regel an einer Mehrzahl relevanter Kriterien gemessen. In Bezug auf das zuvor genannte Beispiel könnten die Höhe des Salärs, die übertragene Verantwortung oder ein anerkannter Experten-Status potenzielle Erfolgsindikatoren darstellen. Hier reicht die Betrachtung eines einzelnen Indikators nicht mehr aus, um über Erfolg oder Scheitern zu urteilen.

Ein Verkäufer, der wenig verkauft, wäre nur dann gescheitert, wenn er die gesamte Kontrolle über die erzielten Handlungsergebnisse hätte. Doch dies trifft kaum zu. Das Produkt kann qualitative Mängel aufweisen, die Marketing-Massnahmen können sich als unwirksam erweisen oder das wirtschaftliche Umfeld kann das Kaufverhalten ungünstig beeinflussen. Diese Tatsachen spielen bei der Beurteilung beruflicher Leistungen auf allen Stufen eine zentrale Rolle.

Vor vielen Jahrzehnten wurde der grosse britische Staatsmann Winston Churchill gebeten, an der Universität von Oxford einen Vortrag über seinen Erfolg zu halten. Die Menschen waren gespannt auf seine Erfolgsgeheimnisse und hörten die Einführungsrede des Professors, der Churchill schliesslich auf die Bühne bat. Churchill wartete einige Sekunden bis vollständige Stille im Raum herrschte und sagt dann: „The secret of my success is: I never, never, never gave up!” Anschliessend setzte er sich wieder auf seinen Platz und liess die verblüfften Zuschauer staunend zurück. Das war vielleicht die kürzeste Rede, die je in Oxford gehalten wurde, aber es war sicherlich eine der besten. Misserfolge sind genauso wichtig wie Erfolge. Man hat im Leben erst verloren, wenn man aufgibt. Solange man das nicht tut und keinen Misserfolg als endgültige Niederlage akzeptiert, hat man nicht verloren!

Ein weiterer wichtiger psychologischer Aspekt der Zielsetzung ist die Festlegung des Anspruchsniveaus. Es ist bekannt, dass schwierige, herausfordernde Ziele zu besseren Leistungen führen als leicht zu erreichende. Diese Schwierigkeitsparameter sind abhängig von der Person. Ziele sollten in einem realistischen Rahmen über den bisher gezeigten Leistungen der Person liegen. Das Anspruchsniveau eines Ziels ist so zu setzen, dass es möglichst herausfordernd erlebt wird, andererseits aber realistisch bleibt. Das ist nicht immer leicht. Dies gilt insbesondere bei komplexen, mit hoher Dynamik verbundenen Aufgaben oder für langfristig orientierte Ziele. Hier besteht ein erhöhtes Risiko, dass die tatsächliche Erfolgswahrscheinlichkeit überschätzt wird.

„Ich bin nicht kreativ“ ist eine weitere Lüge, die sich Menschen gerne erzählen. Gut, vielleicht sind Sie kein zweiter Andy Warhol. Doch was macht das schon? Wichtig ist, dass Sie sich nicht zu früh von ihrem Erkundungsprozess verabschieden. Scheitern ist gut, ja nötig. Doch wenn Sie Experimente oder Risiken meiden, weil Sie sich sorgen, was andere darüber denken, so wird das langfristig mehr an ihrem Selbstvertrauen nagen als ein kurzlebiges Scheitern. Weshalb nicht erkunden, wie talentiert Sie sind? Sie dürften jemanden überraschen. Sich selbst! Gäbe es die Kunst ohne das Scheitern? Samuel Beckett soll nochmals zu Wort kommen: „Künstler sein heisst in einem Masse scheitern, in dem kein anderer zu scheitern wagt.“