Die verlorene Kunst des Zuhörens

Lassen Sie uns die Probe aufs Exempel machen: Wie viele Menschen aus Ihrem beruflichen und privaten Umfeld würden Sie spontan als gute Zuhörer bezeichnen? Wahrscheinlich geht es Ihnen wie mir. Sie können sie an einer Hand abzählen.

Weshalb ist das so?

Haben wir uns zu immer grösseren Egoisten entwickelt, die sich rund um die Uhr mit sich selbst beschäftigen? Liegt es am fehlenden Willen, dem anderen die ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken?

Finden wir eine Antwort gar bei Sir Isaac Newton, dem Verfasser der Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, in denen er mit seinem Gravitationsgesetz die universelle Gravitation beschrieb und die Bewegungsgesetze formulierte, womit er den Grundstein für die klassische Mechanik legte? Auf der Erde bewirkt die Gravitation, dass alle Körper nach „unten“, d.h. in Richtung Erdmittelpunkt fallen, sofern sie nicht durch andere Kräfte daran gehindert werden. Daraus folgt: Nach dem Gesetz der Gravitation ist es einfacher, den Mund zu öffnen, als ihn zu schliessen!

Oder beim Schriftsteller Gottfried Keller: „Mehr zu hören und als zu reden, solches lehrt uns die Natur. Sie versah uns mit zwei Ohren, doch mit einem Munde nur“. Ein Blick in den Spiegel genügt und wir werden auf sanfte Weise an eine der wichtigsten Aufgaben im Verkäufer- und Beraterberuf erinnert!

Zuhören ist doch die natürlichste Sache der Welt, das können wir doch von frühester Kindheit an. Tun wir das wirklich? Damit wir uns richtig verstehen: Zuhören ist viel mehr als lediglich zu schweigen. Die Gabe des Zuhörens ist nicht nur im Verkauf eine der seltensten Tugenden in unserer Gesellschaft. Ein Grund mag darin zu suchen sein, dass wir es weder in der Schule noch an Universitäten lernen. Wir lernen zu sprechen, uns besonders vor Gruppen korrekt auszudrücken. Doch richtiges Zuhören lernen wir nicht. Welche Konsequenzen ergeben sich, wenn wir bei der Fähigkeit des Zuhörens Defizite aufweisen?

–      Der Kunde fühlt sich nicht ernst genommen, deshalb findet kein richtiger Vertrauensaufbau statt.

–      Weil wir weder richtig zuhören noch nachfragen, interpretieren wir die Kundenreaktionen, mit dem Resultat, dass Missverständnissen Tür und Tor geöffnet werden.

–      Angebote reflektieren die Bedürfnisse des Kunden nur mangelhaft, der Preis wird zum einzigen Differenzierungsmerkmal.

–      Es gehen Aufträge verloren.

Ich bin überzeugt, dass heutzutage mehr Aufträge wegen schlechten Zuhörens verloren gehen, als wegen zu hohen Preisen oder dem vermeintlich starken Wettbewerb! Natürlich sagt uns der Kunde das nicht. Stellen wir die Frage noch einmal: Wenn wir schon wissen, dass unkonzentriertes Zuhören Probleme bereitet, warum hören wir dann nicht besser zu?

Mögliche Gründe sind:

  1. Körperliche Anstrengung
    Zuhören ist mehr als nur still sein, im Gegenteil. Ein Verkäufer, der aktiv zuhört, verspürt die Konsequenzen auch körperlich: der Blutdruck steigt, der Puls erhöht sich und er beginnt selbst im Winter zu schwitzen. Die Konzentration auf den Kunden, statt auf sich selbst, ist herausfordern.
  1. Informations-Smog
    Tagtäglich kämpfen unzählige Medien um unsere Aufmerksamkeit, die zu einer kostbaren Währung geworden ist. Diese Reizüberflutung macht es nötig, dass wir die Information ausblenden, die wir als unwichtig einstufen. Das hat den gewichtigen Nachteil, dass wir auch Dinge ausblenden, die für eine nachhaltige Kundenbeziehung wichtig wären.
  1. Aktionitis
    Verkäufer lieben es, möglichst schnell zur Tat zu schreiten. Getreu dem Grundsatz: Schmiede das Eisen, so lange es glüht. Bereits nach wenigen Sätzen glauben sie zu wissen, wo den Kunden der Schuh drückt. Sie unterbrechen ihn und präsentieren im Brustton der Überzeugung die Lösung, anstatt die Zeit zu nehmen, den Kunden ausreden zu lassen und ihm aufmerksam zuzuhören. Meist ist er noch meilenweit davon entfernt zu „glühen“!
  1. Geschwindigkeitsunterschied
    Es gibt einen beträchtlichen Unterschied zwischen unserer Sprechgeschwindigkeit und unserer Denkgeschwindigkeit. Die meisten Menschen sprechen mit etwa 150 Wörtern pro Minute, sind aber in der Lage, bis 450 Wörtern zu hören. Die Differenz gibt uns mehr als genügend Zeit, anderen Gedanken nachzuhängen. Wir hören zur gleichen Zeit zwei Stimmen; jene des Kunden und unsere.
  1. Trainingsmangel
    Wir lernen und trainieren das Sprechen, das Lesen und das Schreiben. Das Zuhören findet sich auf keinem Stundenplan. Ein schlecht trainierter Verkäufer versteht und behält etwa 50 Prozent eines Gesprächs. Dieser Wert fällt nach nur 3 Tagen auf bescheidene 10 Prozent zurück. Das bedeutet, dass er sich nur noch unvollständig und meist unrichtig erinnern kann. Kein Wunder, dass so manches Angebot an den wahren Interessen des Kunden vorbeizielt.

Wie können wir uns beim Zuhören verbessern? Der Weg dazu ist eigentlich denkbar einfach, doch nicht immer leicht in der Anwendung und verlangt deshalb eine Entwicklung der Fähigkeit:

 1) Konzentration
Konzentrieren wir unsere Aufmerksamkeit auf den Kunden und nur auf den Kunden. Stellen wir uns laufend bildlich vor, was er sagt. Bleiben wir in diesem Bild, auch wenn es uns anfänglich nicht immer leicht fällt. Zumindest stellen wir auf diese Weise selbst fest, wenn wir nicht mehr „im Bild“ sind. Wir sollten präsent sein! Wenn wir präsent sind, so ist das ein Geschenk für den Kunden. Und wenn er sich beschenkt fühlt, bringt er sich selber ein und lässt die Maske fallen. So einfach kann das sein.

2) Anerkennung
Wir zeigen dem Kunden, dass wir ihn anerkennen und respektieren, indem wir seinen Ausführungen echtes Interesse entgegenbringen.

3) Informationen
W
ir sammeln Informationen über den Kunden und seine Situation, indem wir ihn befragen. Wenn wir nicht sicher sind, ob wir ihn richtig verstanden haben, dann fragen wir nach. Wir vermeiden einen der häufigsten Fehler, den Verkäufer/Berater begehen: Sie interpretieren die Aussagen des Kunden. 

4) Einfühlungsvermögen
Wir beobachten den Kunden genau und spüren die nonverbalen Botschaften aus seiner Körpersprache. Klar, das braucht Übung, doch das sind wir uns ja gewohnt. Lebenslanges Lernen gehört zu unserem Beruf. 

5) Struktur
Wir strukturieren die Informationen, die wir gehört, gesehen und notiert haben und ziehen dann unsere Schlüsse daraus. Aufmerksames Zuhören erspart uns viel Zeit! Der Kunde teilt uns verbal und nonverbal mit, wie er kaufen möchte. Manchmal über seine Stimme, manchmal über seinen Körper, oder beides. Wir müssen den Prozess nur sehr sorgsam beobachten. Genau zuhören, genau hinschauen und nachfragen. Ich wünsche Ihnen viele positive Erkenntnisse beim aufmerksamen Zuhören.