Die Menschen aus Sardis

Die Meinung, die wir von uns selbst haben, beeinflusst nicht nur unsere Einstellung zum Leben, unsere Kommunikation und unseren Erfolg, sondern auch das, was wir von anderen denken. Um das geht es in dieser Ausgabe.

In Aesops „Fabeln“ gibt es eine Geschichte von einem Philosophen, der vor seinem Haus auf einem Hügel sass und die Aussicht über Athen genoss. Er wurde von einem Reisenden angesprochen. „Entschuldige“, sagte der Fremde „ich bin dabei, nach Athen überzusiedeln und habe mich gefragt, ob du mir sagen kannst, wie die Menschen hier sind.“ „Wo kommst du her?“, fragte der Philosoph. „Ich komme aus Sardis“, sagte der Reisende, „und ich kann dir sagen, dass ich froh bin, diesen Ort zu verlassen. Die Leute in Sardis sind unfreundlich, unzuverlässig und wenig hilfsbereit. Ich hoffe wirklich, dass ich hier in Athen auf bessere Menschen treffe“. „Nun mein Freund“, sagte der Philosoph, „es tut mir leid, aber du wirst feststellen, dass die Menschen in Athen ganz ähnlich wie die Menschen in Sardis sind.“ Enttäuscht zog der Reisende weiter.

Später am Tag wandte sich ein anderer Fremder an den Philosophen und stellte die gleiche Frage. Er sagte: „Ich bin gerade dabei, von Sardis hierher überzusiedeln, und wenn die Menschen in Athen auch nur halb so grossartig sind wie die Menschen dort, bin ich ein glücklicher Mann. In Sardis ist jeder äusserst freundlich, ehrlich und hilfsbereit“.Mein Freund, ich bin glücklich, dir sagen zu können, dass die Menschen in Athen ganz ähnlich wie die Menschen in Sardis sind“, sagte der Philosoph. In gehobener Stimmung zog der Reisende weiter.

Der Philosoph demonstrierte ein einfaches Prinzip, das mit der selbsterfüllenden Prophezeiung und unseren Meinungen von anderen in Zusammenhang steht: Wir sehen in anderen, was wir zu sehen erwarten. In der Regel finden wir genau das, was wir zu finden erwarten.

Sind die Menschen unfreundlich zu dem ersten Reisenden aus Sardis, nimmt er sie deswegen als feindselig wahr? Oder erwartet er Unfreundlichkeit von ihnen und behandelt sie entsprechend – und daher verhalten sie sich ihm gegenüber auch so? Wenn sie zu dem ersten Reisenden unfreundlich sind, warum sollten sie zu dem zweiten Fremden dann freundlich sein? Wie könnten sich die Menschen in Athen dem einen Reisenden gegenüber so, dem anderen gegenüber anders verhalten? Hat der Philosoph Recht – werden die Menschen in Athen auf den zweiten Reisenden anders reagieren?

Was ist Ihre Einstellung zu anderen Menschen? Wie gehen Sie mit ihnen um? Rufen Sie die Reaktionen hervor, die Sie erwarten?

Im Alter von 14 Jahren, mittellos und ungebildet, ging Andrew Carnegie in Schottland an Bord eines Schiffes und reiste in die Vereinigten Staaten. Er baute ein Stahl-Imperium auf und wurde um den Beginn des 20. Jahrhunderts der reichste Mann Amerikas. Er war bekannt für seine Fähigkeit, die Begabungen von Menschen zu entdecken und zu entwickeln. Wie machte er das? Hier sind seine Worte: „Menschen werden erschlossen wie Goldminen. Um eine Unze Gold zu bekommen, müssen einige Tonnen Erde weggeräumt werden. Aber man geht nicht in die Mine und sucht Erde. Man geht hinein und sucht das Gold“. Wenn wir nach Gold bei unseren Mitmenschen suchen, werden wir es finden.

„Behandle die Menschen so, als seien sie, was sie sein sollten, und du hilfst ihnen zu werden, was sie werden können.“ – Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)