Das Märchen vom geborenen Verkäufer

Im letzten Herbst eröffnete mir ein Verkaufsleiter, dass der Herr Y beim Seminar nicht mitmachen würde, denn er sei ein verkäuferisches Naturtalent und könne bereits «alles». Sie kennen bestimmt den uralten Spruch: «Er ist halt der geborene Verkäufer»! Gibt es die überhaupt? Haben Sie schon jemals gehört, dass man von einem geborenen Buchhalter oder geborenem Automechaniker spricht? Um das Thema Talent geht es in dieser Ausgabe, wobei ich mich dabei am Beispiel des Sports orientiere.

Im Sport glaubt jeder an Talent, selbst die Experten – oder gerade die. Aus dem Sport kommt der Begriff des «Naturtalents»: Jemand der aussieht wie ein Athlet, sich bewegt wie ein Athlet und durch und durch Athlet ist, ohne sich anstrengen zu müssen. Dieser Glaube an Talent ist weit verbreitet.

Körperliche Begabung unterscheidet sich in einer wichtigen Hinsicht von geistiger Begabung: Sie ist sichtbar. Grösse, Körperbau und Schnelligkeit sind sichtbar. Auch Übung und Training sind sichtbar und erzielen sichtbare Ergebnisse. Man sollte meinen, dass damit das Märchen vom Naturtalent am Ende wäre. Wir können mit eigenen Augen sehen, wie es kleine, ungraziöse und selbst behinderte Menschen im Sport zu etwas bringen und Menschen mit scheinbaren Astralkörpern nicht. Sollte uns das nicht etwas sagen?

Boxexperten verliessen sich allein auf Körpermasse, um Naturtalente zu erkennen. Sie massen Faustgrösse, Armlänge, Brustumfang und Körpergewicht. Daran gemessen, fiel Muhammad Ali glatt durch. Er war kein Naturtalent. Er war zwar flink auf den Beinen, doch er hatte weniger Kraft und hielt sich nicht an die klassischen Schlagfolgen. Er schien alles falsch zu machen. Er nahm die Arme nicht hoch, um sich vor Angriffen zu schützen, und schlug wie ein Amateur.

Sonny Liston, Alis Gegner in dessen ersten Titelkampf, galt dagegen als Naturtalent. Er hatte alles, was ein Boxer haben musste: Grösse, Kraft und Erfahrung. Er hatte einen Schlag wie ein Dampfhammer. Es war unvorstellbar, dass Ali auch nur den Hauch einer Chance gegen ihn hatte. Der Kampf schien so lächerlich, dass die Arena am Abend des Kampfes halb leer war. Doch Ali war nicht nur flink auf den Beinen – seine wichtigste Waffe war sein Verstand. Er hatte es nicht nur in den Armen, sondern vor allem im Kopf.

Er beobachtete seinen Gegner und begann sein Psychospiel. Er studierte Liston nicht nur im Ring, sondern auch ausserhalb: «Ich las jedes Interview mit ihm, das ich kriegen konnte. Ich sprach mit Leuten, die ihn kannten oder die mit ihm gesprochen hatten. Abends im Bett fügte ich die einzelnen Teile zusammen und stellte ihn mir vor, um zu verstehen, wie er tickte. Und das verwendete er gegen Liston. Warum spielte Ali vor jedem Kampf den Verrückten? Weil er wusste, dass der K.-o.-Schlag der Schlag ist, den man nicht kommen sieht. Ali erzählte: «Liston sollte denken, dass ich verrückt bin. Das ich zu allem imstande bin. Er sah nur meine grosse Klappe und mehr sollte er auch nicht sehen.»

Mit seinem Sieg über Liston schrieb Ali Boxgeschichte. Ein berühmter Manager sagte über Ali: «Er war ein Paradox. Seine Technik war völlig falsch. Doch sein Gehirn funktionierte perfekt. Er hat uns allen gezeigt, dass ein Sieg vom Kopf herkommt und nicht von den Fäusten.»

Das hatte allerdings keinen Einfluss auf unser Vorurteil über körperliche Begabung. Wenn wir heute die alten Fotos von Ali sehen, dann sehen wir einen grossartigen Körper. Wir erinnern uns, dass er schlau war und witzige Sprüche riss, doch wir glauben, dass seine wahre Grösse in seinem Körper lag. Und wir können nicht verstehen, dass die Experten das nicht auf den ersten Blick erkannten.